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Das Sozialgericht (SG) Dresden hat entschieden, dass eine dauerhaft kahlköpfige Frau von der Krankenkasse auch die Versorgung mit einer Echthaarperücke verlangen darf, wenn sich dies langfristig als die kostengünstigste Variante darstellt.

Im konkreten Fall leidet die Klägerin an einem kompletten Haarverlust am Kopf (Alopezia totalis). Seit Jahren entscheidet sich die Klägerin jeweils für die Versorgung mit einer kurzen bis mittellangen Echthaarperücke, während die Krankenkasse nur den Vertragspreis für eine günstigere Kunsthaarperücke erstattet. Die Krankenkasse vertritt insoweit die Meinung, dass Kunsthaarperücken ausreichend seien und insbesondere auch auf den ersten Blick nicht von einer Echthaarversorgung unterschieden werden könnten. Die Vertragspreise werden mit den Hilfsmittellieferanten für eine Standardversorgung ausgehandelt.

Dies sah das Gericht im Ergebnis und nach Anhörung eines auf Perücken spezialisierten Friseurmeisters anders: Es könne letztlich offenbleiben, ob Kunsthaarperücken immer optisch ausreichend seien, um den Verlust des natürlichen Haupthaares für eine unbefangene Beobachterin zu kaschieren. Jedenfalls sei die Versorgung hier wirtschaftlich gewesen, denn die gewählten Echthaarperücken könnten deutlich länger genutzt werden, bevor sie unansehnlich würden und ausgetauscht werden müssten. Im Fall der Klägerin sei die Echthaarperücke zwar knapp 50 Prozent teurer gewesen, habe jedoch auch doppelt so lange gehalten, bevor eine Neuversorgung erfolgen musste.

Das SG Dresden hat sich allerdings ausdrücklich nicht zu den weitaus häufigeren Fällen der vorübergehenden Haarlosigkeit bei Frauen (z. B. durch die Folgen einer Chemotherapie) positioniert. Hier werden von den SG in Deutschland unterschiedliche Auffassungen vertreten.

Der Gerichtsbescheid ist rechtskräftig.

Quelle: SG Dresden, Gerichtsbescheid vom 18.2.2021, S 18 KR 304/18, PM vom 29.3.2021

Mitgeteilt von Rechtsanwalt Ralf Herren aus 50321 Brühl

Das LSG Celle-Bremen hat entschieden: Ein Elektroroller ist kein Hilfsmittel der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Geklagt hatte ein 80-jähriger, gehbehinderter Mann. Von seiner Krankenkasse wollte er eine Beihilfe erhalten, um einen klappbaren Elektroroller mit Sattel anzuschaffen. Diese bot ihm stattdessen einen Elektrorollstuhl an, den der Mann jedoch nicht haben wollte. Ihm sei es wichtig, dass das Gerät transportabel sei. Einen Roller könne er zusammengeklappt im Pkw transportieren und auch in den Urlaub und auf Busreisen mitnehmen. Mit einem Elektrorollstuhl gehe das nicht und auch sein Auto und Carport seien für ein solch großes und schweres Hilfsmittel ungeeignet.

Das Landessozialgericht (LSG) Celle-Bremen hat die Rechtsauffassung der Krankenkasse bestätigt. Ein Elektroroller sei kein Hilfsmittel der GKV, sondern ein sog. Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, der nicht in die Leistungspflicht der Krankenkasse fällt. Zur Abgrenzung komme es darauf an, ob ein Produkt für die speziellen Bedürfnisse von Kranken und Behinderten konzipiert sei. Dies sei bei einem Elektroroller nicht der Fall, da er in seiner Funktion nicht medizinisch geprägt sei. Bereits der Name „Eco-Fun“ zeige, dass es sich um ein Freizeitgerät handele, das nicht für Behinderte konzipiert sei. Im Übrigen könne es mit einer Geschwindigkeit von 20 km/h für den Behindertenbereich auch zu gefährlich sein.

Außerdem habe der Mann den gesetzlichen Beschaffungsweg nicht eingehalten, da er den Roller schon vor der Entscheidung der Krankenkasse bestellt habe und sie damit vor vollendete Tatsachen gestellt habe. Anders als in der Privaten Krankenversicherung (PKV) gelte in der GKV das Sachleistungsprinzip als Leistungsmaxime. Dies bedeute, dass der Mann sich grundsätzlich nicht auf ein bestimmtes Produkt festlegen könne, um danach Kostenerstattung von der Krankenkasse zu verlangen.

Quelle: LSG Celle-Bremen, Beschluss vom 28.8.2020, L 16 KR 151/20

Mitgeteilt von Rechtsanwalt Ralf Herren aus 50321 Brühl

Aus medizinischen Gründen kann die Versorgung mit einem maßgefertigten Echthaarteil erforderlich sein. Die Kostenbegrenzung auf einen Höchstbetrag gilt dabei nicht.

So entschied das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen im Fall einer 55-jähigen Frau. Sie litt an einer Schuppenflechte, die zunehmend zu kreisrundem Haarausfall führte. Um die kahlen Stellen zu bedecken, beantragte sie bei ihrer Krankenkasse ein handgeknüpftes Echthaarteil. Die Kosten beliefen sich auf 1.290 EUR. Die Kasse genehmigte die Kostenübernahme bis zum Höchstbetrag von 511 EUR. Hierfür sei eine gute Versorgung zu bekommen. Die Frau könne auch durchaus eine Perücke tragen, da sie sich nicht überwiegend in der Öffentlichkeit, sondern erhebliche Zeit im privaten Umfeld bewege. Eine Kunsthaarperücke sei zur Wiederherstellung eines unauffälligen Erscheinungsbilds ausreichend. Eine teurere Versorgung sei unwirtschaftlich.

Das LSG hat die Kasse verurteilt, die Gesamtkosten zu erstatten. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass partieller Haarverlust bei einer Frau als Behinderung zu bewerten sei. Grundsätzlich schulde die Krankenkasse zum Behinderungsausgleich zwar nur eine Versorgung, die den Haarverlust nicht sogleich erkennbar werden lässt. Die umfassende Rekonstruktion des ursprünglichen Aussehens sei nicht von der Leistungspflicht umfasst. Im Einzelfall könne jedoch auch ein maßgefertigtes Echthaarteil aus medizinischen Gründen erforderlich sein. In einem solchen Falle könne die Frau nicht gezwungen werden, eine Perücke zu tragen. Hierzu hat sich das Gericht auf die Ausführungen des behandelnden Dermatologen gestützt. Der hatte ausgeführt, dass das verbliebene Haupthaar aufgrund der Schuppenflechte nicht vollständig abgedeckt werden dürfe. Eine Kunsthaarperücke zum Festbetrag sei daher keine zweckmäßige Versorgung.

Quelle: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.3.2019, L 4 KR 50/16

Mitgeteilt von Rechtsanwalt Ralf Herren aus 50321 Brühl

Die Krankenkasse muss das Anlegen eines Stützkorsetts als Leistung der häuslichen Krankenpflege gesondert vergüten. Es handelt sich dabei nicht um eine Grundpflegeleistung der Pflegekasse.

Diese Klarstellung traf das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen im Fall einer 87-jährigen Frau. Sie litt unter anderem an einer Verformung der Wirbelsäule und an fortschreitender Osteoporose. Dafür hat ihr der behandelnde Arzt ein Stützkorsett verordnet. Da die Klägerin dies wegen Schwindel und Motorikschwäche nicht eigenständig an- und ausziehen konnte, verordnete er häusliche Krankenpflege. Die beklagte Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme ab, da es sich nach ihrer Ansicht um Grundpflege handele, die mit den Leistungen der Pflegekasse abgegolten sei. Es sei keine Sonderleistung mit weiterer Vergütung. Denn das Anlegen des Stützkorsetts sei nicht mit dem Anziehen von Kompressionsstrümpfen ab Kompressionsklasse II vergleichbar, sondern sei wie das übliche An- und Auskleiden im Rahmen der Körperpflege zu behandeln.

Dem konnte sich das LSG nicht anschließen. Das An- und Ablegen des Stützkorsetts sei eine „krankheitsspezifische verrichtungsbezogene Pflegemaßnahme“, die im Rahmen der Behandlungssicherungspflege von der Krankenkasse zu bezahlen sei. Behandlungsansatz sei die Stabilisierung der frakturgefährdeten Wirbelsäule, weshalb die Krankenkasse bereits die Anschaffungskosten für das Stützkorsett übernommen habe. Trotz möglicher Überschneidungen mit der Grundpflege sei auch das An- und Ausziehen des Korsetts wegen der stützenden und stabilisierenden Funktion krankheitsspezifisch. Mit normaler Alltagskleidung sei es nicht zu vergleichen. Es müsse eng anliegen und beim An- und Ausziehen müssten mehrere Häkchen und ein Reißverschluss geschlossen werden. Dafür sei deutlich mehr Kraft erforderlich als bei normaler Kleidung. Die Klägerin könne das nicht mehr, weil die Feinmotorik in den Händen eingeschränkt sei und sie auch nicht mehr die ausreichende Kraft dafür habe. Sie habe auch keine Hilfe durch Familienangehörige.

Quelle: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 17.10.2017, L 16 KR 62/17

Mitgeteilt von Rechtsanwalt Ralf Herren aus 50321 Brühl

Ein Blinder kann mit einem Langstock nur unzureichend versorgt sein, wenn die Orientierung durch Schwerhörigkeit zusätzlich beeinträchtigt wird.

Diese Klarstellung traf das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) im Fall eines  50-jährigen Mannes, der bis auf ein minimales einseitiges Restsehvermögen erblindet war. In jüngerer Zeit kam eine Schwerhörigkeit hinzu. Zur Orientierung außerhalb der Wohnung nahm er bisher die Hilfe seiner Frau in Anspruch. Als er bei seiner Krankenkasse einen Blindenhund beantragte, verwies diese ihn zunächst auf einen Blindenlangstock nebst Mobilitätstraining. Dem hielt der Kläger entgegen, dass ein Blindenhund ihm eine viel bessere Hilfe bieten könne.

Das LSG hat die Krankenkasse verurteilt, den Blindenhund zu bewilligen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nicht nur geeignet und erforderlich, sondern auch wirtschaftlich angemessen sein müssen. Dabei hat es zugleich betont, dass es nicht auf die generellen Vorteile eines Blindenführhundes im Vergleich mit einem Blindenlangstock ankomme. Es sei vielmehr die konkrete Versorgungsnotwendigkeit im Einzelfall zu prüfen, die nach medizinischen Gesichtspunkten zu beurteilen sei.

Das Gericht hat daher zunächst die Ergebnisse des Orientierungs- und Mobilitätstrainings mit dem Langstock abgewartet und auf dieser Grundlage ein ärztliches Gutachten eingeholt. Dieses hat aufgezeigt, dass die Orientierungsfähigkeit des Klägers durch die Kombination von Blindheit und Schwerhörigkeit erheblich erschwert ist. Während Beeinträchtigungen eines einzelnen Sinnesorgans noch durch andere Organe kompensiert werden können, kann dies bei Doppelbehinderungen im Einzelfall nicht mehr möglich sein. Hiergegen konnte die Krankenkasse auch nicht erfolgreich einwenden, dass der Kläger inzwischen mit Hörgeräten versorgt wurde und Fortschritte im Mobilitätstraining erzielt hat, da dies über die Defizite nicht ausreichend hinweghelfen konnte.

Quelle: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29.8.2017, L 16/4 KR 65/12

Mitgeteilt von Rechtsanwalt Ralf Herren aus 50321 Brühl

Ein schwerbehinderter Schüler kann von seiner Krankenkasse verlangen, dass diese die Kosten für eine Begleitung auf seinem Schulweg übernimmt, obwohl es sich dabei um eine Leistung der Sozialhilfe handelt. Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen dem Sozialhilfeträger und der Krankenkasse dürfen nicht zulasten des Schwerbehinderten gehen.

Das hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in einem Eilverfahren entschieden. Betroffen war ein Schüler, der an einer schweren Mehrfachbehinderung mit Epilepsie leidet. Für ihn sind ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G, H, RF und aG anerkannt. Für seinen Weg zur Schule muss er ständig begleitet werden. Der als Träger der Sozialhilfe (hier: Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen) zuständige Landkreis hatte einen Antrag des Schülers auf Bewilligung einer Schulwegbegleitung mit der Begründung abgelehnt, er sei hierfür nicht zuständig. Zuständig sei vielmehr die Krankenkasse des Schülers. Dieser leide – auch während der Fahrten zur Schule – unter regelmäßig auftretenden schweren epileptischen Anfällen. Deshalb sei eine Schulwegbegleitung aus medizinischen Gründen notwendig. Der Landkreis leitete den Antrag sodann an die Krankenkasse des Schülers weiter. Die Krankenkasse lehnte den Antrag jedoch ebenfalls ab. Auch sie hielt sich für unzuständig. Nach ihrer Ansicht handele es sich bei der Schulwegbegleitung nicht um eine medizinische Hilfeleistung. Es sei vielmehr eine Beaufsichtigung zur Sicherung der Teilhabe des Schülers an Erziehung und Bildung und damit eine Sozialhilfeleistung zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.

Das LSG hat die Krankenkasse zur Kostenübernahme für die Schulwegbegleitung verpflichtet. Zwar handele es sich im vorliegenden Fall um eine Angelegenheit der Sozialhilfe. Dafür sei eigentlich der Sozialhilfeträger zuständig. Das Sozialgesetzbuch (SGB IX) habe aber einen Schutzcharakter. Der begründe selbst dann eine Zuständigkeit des zweitangegangenen Trägers (hier: der Krankenkasse) gegenüber dem behinderten Menschen, wenn die gewünschten Leistungen nicht zu seinem Zuständigkeitsbereich gehören. Der vom Gesetzgeber gewollte Einigungsdruck zwischen den Trägern von Sozialleistungen führe hier dazu, dass die Krankenkasse Sozialhilfeleistungen zugunsten des schwerbehinderten Schülers erbringen müsse. Eine Schulwegbegleitung folge dessen Anspruch auf eine allgemeine Schulbildung.

Quelle: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.3.2017, L 4 KR 65/17 B ER

Mitgeteilt von Rechtsanwalt Ralf Herren aus 50321 Brühl